Regionalmanagament Thüringer Bogen:

Fritz Weinstein war in Waltershausen bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Und er war ein beliebter Mitbürger. Nach dem ersten Weltkrieg, in dem er für Deutschland im Schützengraben kämpfte, organisierte er Kleiderspenden für Bedürftige. Das tat er so engagiert, dass ihn der Herzog mit einem Orden bedachte. Sein soziales Wirken fand also über die Stadtgrenzen hinaus Beachtung. Das änderte sich mit der Machtergreifung der Nazis. 1937 brachte Weinstein seine beiden Enkeltöchter in Palästina in Sicherheit. Ihre Bitte, doch bei ihnen zu bleiben, lehnte er kategorisch ab. Was sollte ihm passieren? Ihm, der in seiner Heimatstadt hochgeachtet war, dessen Verdienste ihm keiner absprach.

„Eine krasse Fehleinschätzung von Fritz Weinstein“, sagt Mike Reimann, „er wurde kurze Zeit nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt deportiert und ermordet.“ Reimann ist Museumsleiter auf Schloss Tenneberg. Und mit der jüdischen Geschichte Waltershausens kennt er sich bestens aus. Regelmäßig lädt er zum Spaziergang ins jüdische Viertel der Stadt ein. Es ist eine Reise in die Vergangenheit, in eine Zeit, da jüdische Händler Geschäfte zwischen Markt und Stadtbad betrieben, in der jüdische Ärzte hier ihre Patienten behandelten. Geblieben ist davon wenig. Das Wenige jedoch will Reimann erhalten. Und er will es wieder lebendig werden lassen. Das heißt, die Dinge einordnen in den Weltenlauf, in die Shoa, Menschen eine Stimme geben, die lange schon verstummt sind.

Das ist dem Museumsleiter wichtig. Reimann selbst ist Jude. Als solche lebte er in Waltershausen, ohne die Geschichte der jüdischen Gemeinde im Blick zu haben. „Sensibilisiert“, sagt er, „wurde ich erst durch die Aktion Stolpersteine. Zwei davon befinden sich auf dem Marktplatz, vor der Apotheke. Beim Betrachten wurde mir klar, dass es hier bei uns einstmals eine jüdische Gemeinde gegeben haben musste.“ Das Interesse war in ihm geweckt. Aber auch andernorts. Von seinem Arbeitgeber, der Stadtverwaltung Waltershausen, kam der Forschungsauftrag, umfassend diesen Aspekt der Stadtgeschichte zu beleuchten. Noch in diesem Jahr soll eine Druckschrift mit seinen Ergebnissen erscheinen.

„Der Forschungsauftrag löste nicht überall Begeisterung aus“, erinnert sich Reimann. Es gab Menschen, die dachten, da begibt sich einer auf Spurensuche, um alte Rechnungen begleichen zu wollen.“ Diese Stimmen verstummten schnell. „Ich forsche nicht, um jemanden an den Pranger zu stellen, ich will in die jüdische Geschichte dieser Stadt eintauchen, erzählen, wie es den Familien ging. Jene ins Licht rücken, deren Leben im Vernichtungslager endete, und auch jene, die rechtzeitig fliehen konnten und eine neue Heimat fanden.“

Die jüdische Gemeinde in der Puppenstadt war nicht sehr groß, ein Dutzend Familien, vielleicht wenige mehr, allesamt ins städtische Leben integriert. Der Museumsleiter hat Zeitzeugen getroffen, die sich an die Geschäfte, vorwiegend Textilläden, erinnerten. Sie hätten dort sehr, sehr gerne eingekauft, erzählten sie ihm. Und auch die Ärzte, wie Dr. Nußbaum, waren geachtet von ihren Patienten. Eine Synagoge gab es in der Stadt nicht; die Gläubigen fuhren zum Gebet nach Gotha. Es scheint jedoch, dass die kleine Gemeinde überaltert war. Das macht den Weg in die Synagoge in der Residenzstadt beschwerlich. „Deshalb habe ich nach einem Gebetsraum vor Ort gesucht.“ Reimann wurde fündig: In der Privatwohnung der Tochter des jüdischen Kantors feierte die Gemeinde die jüdischen Feste.

Kontakt hatte und hat er zu Nachfahren jener Familien, die sich rechtzeitig absetzen konnten. Entweder nach Palästina oder in die USA. Mithin auch zu ehemaligen Waltershäusern, deren Mutter beziehungsweise Großmutter damals in einem Kindergarten arbeitete. Im Besitz der Nachfahren befinden sich noch interessante Fotos aus dieser Zeit. „Ich hätte sie gern für meine Sammlung, doch wurde mir das verweigert. Zu groß ist immer noch der Schmerz, zu groß die Abneigung gegen das Land der Täter“, erzählt Mike Reimann und macht deutlich, dafür Verständnis zu haben. Die aktuell besorgniserregend wachsenden antisemitischen Tendenzen würden in diesen Familien sehr genau wahrgenommen.

Auch der Jude Reimann registriert sie mit steigendem Unbehagen. Waltershausen allerdings nimmt er hier aus. In der Kleinstadt kenne sich jeder. Hier fühle er sich sicher, sei er heimisch. Der Davidstern, den er an einer Kette um den Hals trägt, lässt keinen Zweifel an seiner Konfession. Nicht selten kommt er darüber mit anderen Menschen ins Gespräch. Und das ist von ihm gewollt. Seine Kippa jedoch trägt er nur auf dem Friedhof oder in der Synagoge, sicherheitshalber.

Bild: Museumsleiter Reimann beschäftigt sich als Leiter des Museums auf Schloss Tenneberg intensiv mit der Stadtgeschichte. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Waltershausen arbeitet er an einem Forschungsauftrag. | © Klaus-Dieter Simmen

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