Regionalmanagement Thüringer Bogen:
Am 1. September 1990 ging Michael Dehmel erstmals zur Arbeit. Ein bisschen Bang war dem jungen Mann damals schon. Als Mensch mit Behinderung sollte er unter lauter nichtbehinderten seinen Mann stehen. „Damals vor 33 Jahren haben wir uns aufeinander eingelassen“, sagt er. Für ihn sei es ein Wagnis gewesen, ebenso für die Verwaltung. „Aber“, sagt er lächelnd, „wir haben uns aneinander gewöhnt.“ Was ziemlich untertrieben ist, gehört er doch heute sozusagen zum alten Eisen im Gothaer Landratsamt. Und von seinem Platz am Empfang ist der freundliche und ausgeglichene Mann nicht wegzudenken.
Als der Lehrling begann, begleitete ihn ein Fachmann einen ganzen Arbeitstag lang. Und der dauerte vier Stunden. Das ist genau die Zeitspanne, die ihm wegen seiner Behinderung zugestanden wurde. „Das war gut bemessen, wie sich zeigte. Wegen meiner eingeschränkten Bewegungsfähigkeit brauche ich für den Haushalt und fürs Einkaufen deutlich mehr Zeit als andere Menschen.“ Drei Arbeitsbereiche waren ihm zugeteilt, neben dem Empfang der Telefondienst, der damals noch getrennt war, und die Poststelle. Wobei ihm das Telefonieren die liebste Arbeit war. „Da fand ich mich rasch zu Hause und konnte schon früh die Vertretung übernehmen, wenn Kollegen ausfielen“, blickt Michael zurück. Im März 1992 beendete er seine Ausbildung und durfte sich Mitarbeiter der Verwaltung nennen. Wenig später absolvierte er eine Weiterbildung.
In all den Jahren hat er am Tresen der Kreisverwaltung viel erlebt. Wütende Menschen beispielsweise, die sich mit Entscheidungen der Verwaltung überhaupt nicht einverstanden zeigten. Einmal stürmte ein aufgebrachter Mann durch die Tür, in der Hand eine Plastiktüte, in der sich sein in kleine Fetzen gerissene Müllbescheid befand. „Nach längerem Suchen fand ich einen Schnipsel, auf dem die Kundennummer des Mannes stand. So konnte ich sein Problem lösen. Aber freundlich hat ihn das nicht gemacht“, erinnert sich Dehmel. Ein anderes Mal verlangte am Telefon ein älterer Herr die Rufnummer von der Hardthöhe. „Dort gibt es immer noch eine Außenstelle des Verteidigungsministeriums. Ich machte den Anrufer darauf aufmerksam, dass ich die dortige Telefonnummer nicht einfach so parat habe. Darauf sagte er: Wieso Verteidigungsministerium, ich will doch nur meinen Müll bezahlen. Er meinte die Deponie An der Hardt in Wipperoda.“
Das sind die beiden Extreme, zwischen denen er sich zum Glück selten bewegen muss. In den meisten Fällen geht es darum, den Menschen die Scheu vor den Ämtern zu nehmen. „Das gelingt nicht immer“, sagt er, „in den meisten Fällen jedoch schon.“ Für Michael Dehmel sind Herzenswärme und Humor die beiden Schlüssel, um Schwellenangst zu nehmen oder aufgebrachte Bürger zu beruhigen.
Die Arbeit ist eine wichtige Säule in seinem Leben. Eine zweite, nicht minder wichtige, ist die Musik. Einerseits als Konsument, andererseits als Unterhalter. Der Geschmack als ersterer ist breit gefächert, geht über Klassik bis Rock und Pop. „Der diesjährige Musiksommer auf dem Hof von Schloss Friedenstein hat mich sehr begeistert“, gesteht er. So oft wie möglich nutzt er Konzertangebote in der Region. Und als Discjockey unterhält er seit fast 30 Jahren auf verschiedenen Veranstaltungen. Angefangen hat es mehr durch Zufall. Bei seinem ersten Besuch beim Behindertenverband gab es eine Disko. „Und die bestand darin, dass jemand mittels Ghettoblaster die Besucher unterhielt. Das war nicht sehr professionell.“ Kurzentschlossen lieh sich Dehmel beim nächsten Mal bei einem Freund eine Anlage und gestaltete seine erste Disko. „Natürlich war der Freund dabei und baute die Anlage auf, auch beim nächsten Mal und übernächsten Mal. Doch dann konnte er einmal nicht und ich war auf mich allein gestellt. Als nach dem Einschalten alle Lichter da blinkten, wo sie es auch sollten, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen.“ Für Diskjockey Dehmel ist es wichtig, dass er nicht einfach nur Platten auflegt und ein paar Sprüche hinterher schiebt. Er will für seinen Auftraggeber ein bleibendes Erlebnis. Deshalb sei es ihm wichtig, vorab mit ihm zu reden. Noch hat sich das Geschäft nach Corona nicht vollständig erholt. War er davor zweimal im Monat unterwegs, ist er jetzt froh, wenn jeden zweiten Monat ein Auftrag kommt. An seiner akribischen Vorbereitung hat sich deshalb jedoch nichts geändert.
Bild: Michael Dehmel | © Klaus-Dieter Simmen