Regionalmanagement Thüringer Bogen:
Gustav Zitzmann war Ende des 19. Jahrhunderts auf der Walz, wie so viele Müllergesellen vor und nach ihm. Von Ostpreußen hatte es den jungen Mann ins Thüringische verschlagen. Dort, nämlich in Gebesee, traf er die Liebe seines Lebens. Als Verlobte sahen sich Gustav und Selma Brand in der Region nach einer Möglichkeit um, die Zukunft in eigene Hände zu nehmen.
In Ingersleben stand eine Mühle zur Versteigerung. 1847 gegründet, brachte sie den Inhabern wenig Glück. Dreimal schon war der jeweilige Müller pleite gegangen. Das schreckte das Paar nicht ab. Mit der Aussteuer von Selma, der zweiten Tochter eines Landwirts, erwarben sie 1898 das Anwesen an der Apfelstädt. Und gründeten damit ein Unternehmen, das in diesem Jahr auf eine 125-jährige Tradition blicken kann. Nicht nur das: Die Mühle Gustav Zitzmann in Ingersleben ist ein wichtiger Partner in der Region, besonders für Handwerksbäcker. Rund 120 Kilometer umfasst der Radius, in dem das Mehl aus Ingersleben ausgeliefert und zu duftenden Backwaren verarbeitet wird.
Mittlerweile trägt mit Stefan Zitzmann die sechste Generation Verantwortung im Unternehmen. Doch wie in Familienbetrieben üblich, nicht allein. Konrad und Jochen Zitzmann stehen ihm zur Seite. Selbst als die DDR-Regierung die Mühle verstaatlichte, blieben mit Rudolf und Kurt zwei Müller aus der Familie an der Spitze des nun volkseigenen Betriebes. Bis zum Ende des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates waren die Ingersleber Teil des Kombinates für Getreidewirtschaft. So bald sich die Möglichkeit eröffnete, die Mühle wieder zurück in Familienbesitz zu holen, griffen die Zitzmanns zu. Seit 1992 trägt sie nun wieder den Namen ihres Gründervaters.
Der übrigens bezog das Getreide für seine Mühle von Landwirten aus der Region. „Was da angeliefert werden konnte, reichte für die damalige Vermahl-Leistung aus“, sagt Stefan Zitzmann. „Heute verarbeiten wir 100 Tonnen Getreide innerhalb von 24 Stunden und im Jahr 18 000 Tonnen. Was auf den Feldern um Ingersleben geerntet wird, reicht dafür längst nicht mehr aus.“ Trotzdem setzt der Familienbetrieb auch weiterhin auf Regionalität. „Nur beziehen wir jetzt unser Getreide aus einem Umkreis von rund 80 Kilometern.“ Ob Missernten, Krieg oder Krisen, so fern sie auch sein mögen, all das wirkt sich auch auf den Getreidepreis hier aus. Das verteuert das Endprodukt. „Zum Glück hat sich der Getreidepreis in diesem Jahr wieder normalisiert“, freut sich Stefan Zitzmann.
Zu schaffen machen den Ingersleber Müllern die hohen Energiepreise. Um sich davon ein Stück weit unabhängig zu machen, wurde am alten Mühlgraben eine Wasserturbine installiert. Betrüblicherweise reicht das Wasser der Apfelstädt längst nicht mehr aus, um diese effektiv zu betreiben. Etwas mehr als ein Drittel der möglichen Leistung bringt die Turbine noch. Und das lediglich zu bestimmten Zeiten. Im Sommer liegt das Flüsschen trocken. „Da muss man reagieren. Derzeit prüfen wir, ob eine Photovoltaikanlage auf dem Dach unserer Lagerhalle und auf dem dort zur Verfügung stehenden Freigelände uns mit ausreichend Strom versorgen kann.“ Das Problem, so Zitzmann, liege darin, dass die Energie über rund 800 Meter Luftlinie zu den Maschinen geleitet werden muss. Zwar verspricht die Bundesregierung Unternehmen billigen Industriestrom. So wie es sich derzeit darstellt, haben die Müller aus Ingersleben nichts davon. „Wir sind nicht groß genug dafür.“
So versuchen die Inhaber den betrieblichen Ablauf so effektiv wie möglich zu gestalten. Moderne Maschinen senken den Stromverbrauch. Luft, die der Mühlenbetrieb so nötig hat wie der Mensch zum Atmen, wird wirklich nur da erzeugt, wo sie auch Anwendung findet. In Ingersleben werden Roggen, Weizen und Dinkel vermahlen, sowohl konventionell als auch Bio. Seit diesem Jahr stehen die zahlreichen Mehlsorten im eigenen Hofladen zum Verkauf. Auch kleinere Geschäfte entscheiden sich immer öfter, dieses Sortiment anzubieten. Kein Wunder, deckt doch die Mühle Gustav Zitzmann eine beeindruckende Bandbreite ab: Pizzamehl, Stollenmehl, Plätzchenmehl, Weizenmehl unterschiedlicher Typisierung, Hartweizen- und Weichweizengries – und zum Jubiläum verschiedene Erzeugnisse aus Gelbweizen.
Mehl macht glücklich, findet Stefan Zitzmann, der sich als Kind schon mit Begeisterung in der Mühle aufhielt. Dass er dereinst Müller werden wird, stand für ihn außer Frage. Heute ist er Müllermeister und hat ein Studium der Mühlentechnik absolviert. Und er ist, ebenso wie Konrad und Jochen Zitzmann stolz darauf, dass Ingersleben ein Dorf ist, in dem ein Landwirt Getreide anbaut, das in der Mühle vermahlen wird. Und der Bäcker am Ort aus dem Mehl leckeres Brot backt. Übrigens steht die sechste Generation schon bereit, jedenfalls fast. Noch ist die Tochter von Stefan zu klein, um sich fürs Familienunternehmen zu interessieren. Aber der stolze Papa hofft, dass sie später mit der gleichen Neugier durch die Mühle streift, wie einst er. Und mit Selma trägt sie den gleichen Vornamen wie Firmengründer Gustavs Frau … Wenn das kein Omen ist.
Bild: Dreimal Zitzmann: Jochen, Stefan und Konrad. Sie leiten gemeinsam die Geschicke der Getreidemühle in Ingersleben, die in diesem Jahr 125-jähriges Bestehen feiern konnte. Im neuen Hofladen gibt es eine große Auswahl unterschiedlicher Mehle. | © Klaus-Dieter Simmen