Regionalmanagement Thüringer Bogen:

Archive sind bei weiten nicht die stillen Orte, die sich mancher vorstellt. „Im Gegenteil“, sagt Dr. Julia Beez, „Archive sind Begegnungsstätten besonderer Art.“ Sie muss es wissen. Die junge Frau ist Leiterin des Gothaer Stadtarchivs. Als solche hat sie regelmäßig mit Menschen zu tun, die auf Spurensuche ihrer Familiengeschichte sind. Und manchmal trifft sie dabei auf ganz besondere Menschen, auf Menschen, deren eigene Geschichte eng mit der Gothas, mit der Thüringens verbunden ist. Die Stadt selbst knüpft und pflegt seit Jahren Kontakte besonders zu jüdischen Familien, deren Vorfahren im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben der Stadt eine Rolle spielten und vor den Nazis fliehen mussten.

Vertreter einer in Thüringen weithin bekannten Familie konnten im Oktober begrüßt werden. Mit Carey Philpott und ihren Ehemann Mike kam die Urenkelin von Julius und Clara Simson zu einer Stippvisite in die Residenzstadt. Der Name Simson hat sich vor allem wegen der Mopeds aus Suhler Produktion nicht nur in Thüringen festgesetzt. Allerdings hat die Unternehmerfamilie in der Stadt im südlichen Teil des Freistaats weitaus mehr Spuren hinterlassen. Im 19. Jahrhundert gründeten die Brüder Moses, Gerson und Hugo Simson die Suhler Waffen- und Fahrzeugfirma. Die wuchs rasch und avancierte zum größten Arbeitgeber in der Region.

Bald schon gab es eine Verbindung nach Gotha, denn 1883 kauften die Brüder die Hennebergische Porzellanfabrik, in der Julius Simson 1887 als Prokurist einstieg und später Mitinhaber wurde. In den besten Zeiten arbeiteten 300 Mitarbeiter für das Familienunternehmen, welches 1932 seine Arbeit einstellte. Heute ist vom ehemaligen Fabrikgebäude in der Steinmühlenallee nichts mehr zu sehen. Das Wohnhaus der Familie hingegen, das sogenannte Porzellanschlösschen Ecke Friedrichstraße/Schöne Allee, ist immer noch ein Blickfang.

Für den Besuch aus der Nähe von London hatte Julia Beez ein umfängliches Programm zusammengestellt, das Carey und Mike Philpott an die Wirkungsstätten ihrer Familie führte. Matthias Wenzel, Vorsitzender des Vereins für Stadtgeschichte, begleitete sie auf den jüdischen Friedhof in der Eisenacher Straße, wo sich die Gräber ihrer Urgroßeltern befinden. Auf einem Stadtrundgang bekamen die Gäste von ihm viele Informationen zur jüdischen Geschichte Gothas. Höhepunkt war der Besuch des Porzellanschlösschens, wo Carey Philpott mit klopfendem Herzen das Haus ihrer Vorfahren auch von innen besichtigen konnte. Nach dem Besuch in Gotha reiste das Ehepaar tags drauf nach Suhl, um sich dort auf die Spuren ihrer Familiengeschichte zu begeben.

Nach dem Tod von Julius und Clara Simson 1936 und 1938 entschied sich die Familie vor der Verfolgung der Nazis zu fliehen. Carey Philpott erinnert sich im Gespräch mit Julia Beez. Ihre Mutter Ursula Hess sei im Juni 1939 mit ihrer Schwester und Tante Grete (Margarete Ruppel, geborene Simson) nach England geflohen. Kenneth Ruppel hatte ein Internat für Mutter Ursula, damals 14 Jahre alt, und ihre Schwester Luise, acht Jahre alt, gefunden. Die Nazis hatten die Pässe ihrer Eltern (Manfred und Gertrud Hess, geborene Simson) beschlagnahmt. „Mein Großvater musste einen Nazi mit dem Geld für ein Motorrad bestechen, um deren Pässe zurückzubekommen. Sie hatten Glück, sie verließen Deutschland zwei Wochen vor der Schließung der Grenzen, im August 1939. Meine unmittelbare Familie hatte großes Glück!“

Nach dem Besuch in Deutschland unterstrich Carey Philpott rückblickend, dass sie und ihr Mann in Gotha und Suhl eine wundervolle Zeit erlebt haben. Das umfangreiche Programm, das ihnen geboten wurde, hätten sie niemals erwartet. Dankbar für die Gastfreundschaft freut sie sich, „dass alle Beteiligten sich so darum bemühen, neue Bande der Freundschaft zu knüpfen“.

Bereiteten Carey und Mike Philpott (mitte) einen unvergesslichen Aufenthalt in Gotha: Matthias Wenzel, Oberbürgermeister Knut Kreuch und Dr. Julia Beez (v.l.) | © Klaus-Dieter Simmen

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